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Gießener Allgemeine vom 27.2.2023

Von internationalem Format

(Sascha Jouini)

Mal aufwühlend, dann entspannend: Das Chagall-Quartett im Kulturrathaus. © Sascha Jouini

Das Chagall-Quartett bereitet dem Publikum beim Winterkonzert großes Vergnügen. Für den herzlichen Beifall zum Schluss bedanken sich die Musiker mit einer nordisch-frischen Zugabe.

Unter den Ensembles, die der Meisterkonzertverein zu den Winterkonzerten einlädt, zählt das vor 21 Jahren an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler gegründete Chagall-Quartett zu den glanzvollsten. Das Streichquartett vermochte die zahlreichen Besucher am Sonntag im Levi-Saal, wie schon bei zwei früheren Auftritten, restlos zu begeistern. Dabei sorgte das ungewöhnliche Programm für ein bereicherndes Erlebnis.
Stefan Hempel (1. Violine), Holger Wangerin (2. Violine), Max Schmiz (Viola) und Jan Ickert (Cello) hatten mit vier Stücken aus Johann Sebastian Bachs »Kunst der Fuge« einen originellen Einstieg gewählt und bewiesen, dass das Werk auf einem Streichensemble mit der Klangcharakteristik und räumlichen Auffächerung der Instrumente mindestens so stark zu faszinieren vermag wie auf Cembalo oder Klavier. Andächtig-ruhig strömte die Musik im »Contrapunctus 1« dahin. Dank plastischer Gestaltung des Stimmengeflechts und profilierter Themeneinsätze konnte man sich der kompositorischen Eleganz kaum entziehen. Rascher gehalten war der »Contrapunctus 4«, bei dem das Ensemble die Akzente so stark wie eben nötig setzte und wieder ein ausgewogenes Bild hinterließ. Eine weitere Bewegungsverdichtung markierte Nr. 9. Bei aller Virtuosität behielten die Musiker stets ihre detailverliebte Spielweise bei. In Nr. 11 schloss sich der Kreis, sie führte zur anfänglichen Ruhe zurück.

»Kreutzersonate« als Glanzlicht

Fesselte bei Bach die kontrapunktische Satztechnik, so war es bei Leos Janáceks erstem Streichquartett das Gefühlspanorama. Inspiriert durch Lew Tolstois Novelle »Die Kreutzersonate«, beleuchtet der tschechische Komponist das tragische Schicksal der Frauengestalt, einer aus Eifersucht ermordeten vermeintlichen Ehebrecherin. In der Musik zeichnet er weniger äußere Konflikte nach, konzentriert sich vielmehr auf psychische Empfindungen - von seelischer Anspannung bis zum Freiheitsgefühl. In den vier Sätzen bereitete das Ensemble ein enormes Spektrum aus zwischen klanglich fahlen Abschnitten und hartnäckigen Höhepunkten.

Zum entspannten Zurücklehnen

Nach all den aufwühlenden Momenten lud Franz Schuberts »Streichquartett a-Moll D 804« zum entspannten Zurücklehnen ein. Dramatische Ausbrüche gab es zwar auch hier, nun aber eingebettet in einen harmonisch-geordneten Rahmen.

Die Interpretation schien bis in kleinste motivisch-thematische Verästelungen ausgefeilt. Dabei gerieten die Übergänge so raffiniert, dass formale Zusammenhänge stets durchhörbar blieben. Dies galt für den Allegro-Kopfsatz ebenso wie für das Andante mit der unschuldig-naiven Weise, die zu abgründigen Wendungen führte. Seine internationale Klasse untermauerte das Ensemble beim Menuett sowie dem Allegro-Finale und machte deutlich, dass solche hochrangigen Live-Darbietungen unersetzlich sind.

Das i-Tüpfelchen bildete die profunde Moderation des Violinisten Holger Wangerin. Für den Beifall dankte das Chagall-Quartett mit einer nordisch-frischen Zugabe: »Shine you no more«, basierend auf der Harmoniefolge von John Dowlands »Flow my Tears«.

Gießener Anzeiger vom 28.2.2023

Die Kunst der Fugen

Von Heiner Schultz

Gießen. Einen Riesenerfolg konnte das Chagall Quartett mit seinem Auftritt beim dritten aktuellen Winterkonzert des Vereins Gießener Meisterkonzerte im ausverkauften Hermann-Levi-Saal verbuchen. Die Musiker glänzten mit höchstem handwerklichen Niveau und einer mitreißenden emotionalen Kraft. Ihre Werkauswahl mit Bach, Janácek und Schubert erwies sich als überaus interessant.

Das Publikum zeigte sich hingerissen.

Stefan Hempel (Violine), Holger Wangerin (Violine), Max Schmiz (Viola) und Jan Ickert (Violoncello) waren zuletzt 2018 in der Stadt und hatten sich schon damals als Spitzen-ensemble mit internationaler Klasse erwiesen. Voller Spielfreude musizierte das 2002 an der Hochschule für Musik Hanns Eisler gegründete Quartett zunächst Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Auszüge aus der »Kunst der Fuge«. Holger Wangerin fügte kundig und kurzweilig eine Moderation zum Thema ebenso wie zu den anderen Teilen ein.

Mit behutsamer Präzision wurde die Serie von Fugen eröffnet, zunächst mit träumerischem Hereinwehen, leicht und mit sanfter Beschwingtheit. Abwechslung war angesagt in diesem Vierfachsatz. Der nächste kam sanft sprudelnd mit einer melodischen Abweichung daher. Dann ging es flink und lebhaft weiter. Schließlich eine narrative Vielstimmigkeit, teils etwas elegisch. Das recht komplexe Material wurde schön durchsichtig realisiert, massiver Beifall.

Leoš Janáceks (1854-1928) Streichquartett Nr.1 »Kreutzersonate« als zentrale Attraktion brachte dann ganz große Gefühle. Mit zunächst klar melodramatischem Auftakt entwickelte sich das Geschehen bald zu einer flotten Dramatik, schnelle Elemente wurden eingeworfen, dann wieder lief es stimmungsvoll: insgesamt sehr interessant. Es gab Anklänge an den Walzer sowie Klangeffekte, der aparte Duktus wies hochdramatische Wendungen und knackige moderne Elemente auf - das war spannend musiziert.

Im dritten Satz kamen leicht grelle Elemente hinzu, die Assoziationen an einen Schauerroman ermöglichten. Im vierten Satz dann ein fast sakrales sanftes Einschweben, dennoch frisch und lebenslustig. Genüsslich wurde die stilistische Vielfalt der Komposition ausgeführt, und eine fast leidenschaftliche Spannungsdramaturgie realisiert. Großartig, wenngleich es schon etwas anstrengend war, diese konzentrierte Komplexität zu konsumieren.

Bis dahin hatten die Berliner Gäste bereits einen emotional mitreißenden, handwerklich überragenden Eindruck hinterlassen. Eine intuitive inhaltliche Übereinstimmung ließ das Ensemble zu einer exzellent homogen agierenden Klangquelle werden, der man sich mit blindem Vertrauen hingeben konnte; ein Erlebnis.

Der abschließende Teil des Musikerlebnisses bestand in Franz Schuberts (1797-1828) kontrastreichem Streichquartett a-Moll D 804 op. 29 »Rosamunde«. Es begann mit schmelzender Leidenschaft und wurde dann lebhaft mit sanften Einschüben. Die Dramatik war dezidiert fröhlich, mit einer federleichten Vielfalt, wenngleich eine versunkene Stimmung den Klang durchwehte. Das Ensemble ließ die Klangfarben herrlich konkret werden, leuchtete die Komposition bis in den letzten Winkel hinein aus; eine seltene, famose darstellerische Kompetenz und ein wesentliches Merkmal dieser Formation.

Eine wunderbare stilistische und klangliche Vielfalt kennzeichnet das weitere Material. Mal wurde mit sanfter Dynamik ein charmanter neuer Duktus angeschlagen. Dann wieder ein schwereloses Tänzeln mit bestechender Leichtigkeit vollführt: großes Volumen ohne eine Spur von Unreinheit. Als Zugabe genoss das Publikum »Shine you no more«, auf der Grundlage von John Dowlands »Flow my Tears«. Noch einmal großes Kino.